Auf Spitzbergen gibt es zwei große russische Siedlungen (“Little Russia”): Barentsburg und Pyramiden. Barentsburg ist heute noch bewohnt, Pyramiden hingegen ist eine Geisterstadt. Mehr oder weniger. Denn ein paar Einwohner hat der Ort schon. So zwischen 8-10. Und ab und zu einen Eisbären.

Pyramiden oder Barentsburg

Als es um die Entscheidung ging, ob wir Barentsburg oder Pyramiden besuchen, war klar: es muss unbedingt Pyramiden sein. Denn schließlich war ich noch nie in einer Geisterstadt. Und eigentlich war Pyramiden auch der Grund, weshalb ich überhaupt mal nach Spitzbergen wollte. Ich hatte eine Dokumentation gesehen (es war nicht diese, aber sie trifft es gut) – von dieser verlassenen russischen Kohlebau-Siedlung mit der nördlichsten Lenin-Statue der Welt. Und von dessen russischen Guide Sascha (eigentlich Alexander). Natürlich wusste ich nicht, ob Sascha noch in Pyramiden ist, denn mal ehrlich: wie lange hält man es eigentlich in so einer Geisterstadt aus? Aber wer weiß…
 

Wie ihr grundsätzlich nach Pyramiden kommt

Pyramiden (und auch Barentsburg) kann man von Longyearbyen auf verschiedene Arten erreichen. Sobald die Fjorde einigermaßen eisfrei sind, kann man mit dem Boot nach Pyramiden fahren, bspw. mit einem Ausflugsboot oder einem Speedboat/Katamaran. Meistens ist das frühestens ab März möglich. Im Winter kann man mit dem Schneemobil anreisen. Wer es etwas abenteuerlicher mag, kann auch eine mehrtägige Wandertour buchen oder Pyramiden mit dem Kajak vom Wasser aus anschauen.

Billefjord
Für eine Kajaktour im Billefjord sollte man schon etwas Erfahrung mitbringen.

Welche Touren angeboten werden, erfahrt ihr wieder bei der Touristeninformation von Spitzbergen. Wir haben uns für einen Fjord Cruise mit Besuch des Nordenskiöld Gletschers und einer Führung durch Pyramiden entschieden.

Fjord Cruise

Unsere Tour startet am frühen Morgen. Wobei mein Körper sowieso keine Ahnung mehr hat, wann eigentlich Tag oder Nacht ist und ob es jetzt früh am Morgen ist. Mitternachtssonne ist schon etwas Seltsames.

Pyramiden Spitzbergen
Die MS Langøysund im Hafen von Longyearbyen.

Die Tour wird zehn bis zwölf Stunden dauern, davon werden allerdings nur zwei Stunden der Besuch in Pyramiden selbst sein. Spitzbergen zeigt sich weiterhin von seiner allerbesten Seite bei sonnigen und absolut klaren 10 Grad – hochsommerliche Temperaturen für den arktischen Sommer. Ich stehe an der Reling und schaue den Schiffen zu, wie sie aus dem Hafen in Longyearbyen auslaufen und wie die bunten Häuschen immer kleiner werden und schließlich am Horizont verschwinden.

Spitzbergen Pyramiden
Es ist scheinbar Rush Hour im Hafen von Longyearbyen.
Schiff Pyramiden
Sommerurlaubsoutfit

Während Unmengen von Seevögeln unser Schiff begleiten, drücke ich uns selbst ganz fest die Daumen, dass sich ein Wal blicken lassen wird. Mehrere Stunden schippern wir so dahin, ich verdrücke eine Waffel und halte mich mit mindestens drei Kaffee wach bis wir schließlich um die Mittagszeit den Nordenskiöld Gletscher erreichen.

Nordenskiöld Gletscher
Pyramiden

Ich bin von Gletschern immer beeindruckt und frage mich, welche Geschichten das ewige Eis wohl zu erzählen hätte. Vor der Gletscherkulisse gibt es dann auch Mittagessen – unter anderem gegrillten Walfisch. Obwohl ich weiß, dass der Walfang in Norwegen und Spitzbergen in bestimmten Umfang erlaubt ist, kann ich mich nicht dazu durchringen, etwas davon zu probieren. Sieht überraschenderweise aus wie Rindfleisch. Habt ihr schon mal Walfisch probiert?

Eine ganze Weile steht unser Schiff vor dem Nordenskiöld Gletscher und wir beobachten, wie ab und zu etwas Eis abbricht und tosend im Meer verschwindet. Ganz viele kleine Eisschollen schwimmen im Wasser, glitzern in der Sonne und verleihen diesem Ort etwas Magisches.

Pyramiden
Eisschollen vor dem Nordenskiöld Gletscher
Pyramiden
Das ewige Eis des Nordenskiöld Gletschers

Nachdem ich mir den Bauch mit Lachs statt mit Wal vollgeschlagen habe, geht es weiter. Nächster Halt: Pyramiden.

Pyramiden entdecken

Am frühen Nachmittag erreichen wir endlich die nördlichste Geisterstadt der Welt. Letzte Woche war hier noch ein junges Eisbärmännchen unterwegs. So sagt man zumindest. Ganz sicher bin ich mir nicht, ich glaube, etwas Show gehört hier auch dazu. Schon von Weitem versprüht Pyramiden einen morbiden Charme und ich frage mich, wie man hier heute noch leben kann. So ganz am Ende der Welt. In einer Geisterstadt. Gruselig. Während ich als altes Stadtkind noch darüber nachgrübele, wie man in so einer Einsamkeit zurecht kommt – ohne Internet und Mobilfunknetz – legt unser Schiff an einem etwas in die Jahre gekommen Pier an. Und wer erwartet uns hier? Tatsächlich: Sascha!

Spitzbergen
Die “Skyline” von Pyramiden.
Spitzbergen
Ein altes Lagerhaus.
Spitzbergen
Wie lange der Pier wohl noch durchhalten wird?
Spitzbergen
Ein morscher Pier und ein russischer Bus erwarten uns…
Pier
…und: Sascha!

Geschichte und Geschichten von und aus Pyramiden

Seinen ungewöhnlichen Namen hat die Siedlung von ihrem Berg, welcher die Form einer Pyramide hat. Pyramiden liegt ca. 110 km von Longyearbyen entfernt am Billefjord, einem Ausläufer des Isfjords. Seit Gründung 1921 bis in die Neunziger Jahre haben hier zeitweise bis zu tausend Menschen gelebt, bis die Siedlung 1998 recht überstürzt von den Russen verlassen wurde, weil sich der Kohleabbau nicht mehr gelohnt hat. Und somit gibt es in Pyramiden eigentlich alles, was man sich so vorstellen kann:

  • einen Hafen
  • einen Helikopter-Landeplatz
  • Schulen, Kindergärten und Spielplätze
  • ein Krankenhaus
  • ein Kulturhaus mit Schwimmbad, Kino und Basketball-Feld
  • ein Gewächshaus und Ställe
  • einen Radiosender
  • ein Hotel
  • eine Kantine
  • etc.

In der Nähe der Siedlung gibt es auch noch einen Stausee, so dass auch die Trinkwasserversorgung gegeben war und Pyramiden relativ autark bewirtschaftet werden konnte.

Sascha nimmt uns mit durch den Ort und beantwortet absolut geduldig wirklich alle Fragen. Man hat tatsächlich das Gefühl, dass er das hier gerne macht, obwohl er im Sommer jeden Tag das Gleiche erzählt. Wir fragen ihn, wie man hier leben kann und was er genganzen Tag so macht. Bücher sind hier wohl unverzichtbar. Außerdem verreist er meistens im Winter – irgendwo hin wo es warm ist. Aus diesem Grund versucht er den Sommer über eine Sprache für sein aktuelles Reiseziel zu lernen. Einmal in der Woche wandert er den ganzen Berg hoch bis zur Kohlemine, denn nur dort gibt es Internet. Handyempfang gibt es nur am Pier – irgendwo. Man hält das Handy hoch und sucht und sucht und sucht und wenn man Glück hat, gibt es mal für eine Minute Empfang, so dass man mal SMSen empfangen kann. So reserviert man hier übrigens auch das Hotel. Man sollte also mit längeren Antwortzeiten rechnen. Und ansonsten “Vodka from Mama” sagt er. Wir grinsen. Er auch.

Wir fragen ihn, was passiert, wenn hier mal jemand krank wird. Im Notfall sagt er, wird man mit dem Helikopter abgeholt. Ansonsten muss man nach Barentsburg oder Longyearbyen. Er hatte wohl selbst schon mal eine schlimme Zahnentzündung mit einer vereiterten Backe. Um dann nach Barentsburg zu kommen, hat es zwei ganze Tage gedauert. Er musste nämlich zunächst mit einem Touristenboot nach Longyearbyen, dort eine Nacht übernachten und dann weiter mit dem nächsten Touristenboot nach Barentsburg. Und das Gleiche wieder zurück. Und schon weiß man wieder wie gut man es als deutsches Stadtkind hat, mit Notaufnahmen, die 24 Stunden am Tag geöffnet haben.

Rundgang

Wir laufen vorbei an Lagerhäusern, Wohnhäusern, einem Überbleibsel des Walfanges und allerlei morschen Holzkonstruktionen. Im Hintergrund die beeindruckenden Berge und die verwaisten Kohleförderungsanlagen und im Vordergrund das rot-gelbe Gras. Die Farben sind wirklich schön.

Spitzbergen
Überreste des Walfangs: eine Harpune und ein Walzahn.
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Farbspiel der Berge.
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Heute haben sich die Möwen den Spielplatz unter den Nagel gerissen. So wie einige andere Gebäude auch.

Kulturhaus

Die meisten Gebäude kann man als Tourist leider nicht mehr von innen besichtigen. Sie sind mittlerweile verschlossen, denn wie überall auf der Welt, gab es hier einige dumme Touristen, die der Meinung waren, die Gebäude aufbrechen und beschädigen zu müssen. Zum Glück ist das Kulturhaus noch für Besichtigungen geöffnet und wir dürfen es sogar auf eigene Faust erkunden. Es steht am Ende auf des Hauptplatzes von Pyramiden, dem wohl bekanntesten Fotomotiv des Ortes.

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Der Hauptplatz von Pyramiden mit dem Nordenskiöld-Gletscher im Hintergrund.
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Der nördlichste Lenin der Welt.

Während Sascha und unser norwegischer Guide vor dem Haus auf uns warten, erkunden wir das Innere des Gebäudes, welches dengleichen morbiden Charme versprüht, wie alles außerhalb. Das Kulturhaus hat so ziemlich alles, was man zur Unterhaltung braucht: einen Sportplatz, Filmvorführungsmöglichkeiten, ein Ballettstudio und verschiedene Musikräume.

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Eingangsbereich zum Obergeschoss
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Überreste des Kinos.
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Die Sporthalle.
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Einer der Musikräume.

Man kann sich kaum vorstellen, dass hier mal so viele Menschen gelebt haben sollen. Die Gebäude fallen mehr und mehr dem arktischen Klima zum Opfer. Nicht zuletzt deswegen sind hier auch einige Menschen, die die Gebäude vor dem Verfall retten sollen, indem sie sie bewohnen oder beheizen.

Tagesausflug oder Übernachten?

Die meisten Besucher machen einen Tagesausflug, allerdings gibt es auch ein Hotel und ein Container-Hostel in Pyramiden, so dass man über Nacht bleiben kann (das ist übrigens auch in Barentsburg möglich).

Spitzbergen
Das Hotel in Pyramiden hat seit ein paar Jahren wieder geöffnet: Etwas Ostcharme gefällig?

Da die meisten Tagesausflüger nur ein bis zwei Stunden zur Verfügung haben, um Pyramiden zu entdecken, bietet sich eine Übernachtung tatsächlich an, wenn man etwas mehr sehen möchte. Wer will kann verschiedene Walking oder Trekking Touren unternehmen oder mit dem Fat Bike die Umgebung erkunden. Selbstverständlich wieder nur mit Guide. Außerdem fand ich das Hotel so schräg, dass sich sicherlich schon nur dieses Erlebnis lohnt.

Zu guter Letzt

Auf dem Rückweg passieren wir noch einige beeindruckende Berge, alte Schiffswracks und alte Forschungsstationen. Und – man glaubt es kaum – kurz vor Longyearbyen lässt sich tatsächlich noch ein Wal blicken. Das heißt für das ganze Schiff. Außer für meinen Freund. Er war der Einzige, der alles verpasst hat. Auf dem stillen Örtchen. Dem einzigen Ort auf dem Schiff wo es keine Lautsprecher gibt, durch welche der Kapitän ankündigte, dass seitlich von uns ein Wal zu sehen sei.

Pyramiden Tagesausflug
Beeindruckende Berge.
Schiffswrack
Eines von mehreren Schiffswracks. Wer wohl mit dieser kleinen Nussschale hier mal gestrandet ist?

Fazit

Für mich strahlt dieser Ort am Ende der Welt eine ganz besondere Stimmung aus. Manchmal setze ich mich etwas von der Gruppe ab und versuche diese Atmosphäre in mich aufzusaugen. Außerdem ist es eine besondere Erfahrung in Europa mit Waffenschutz durch einen Ort “eskortiert” zu werden. Bei mir löst das ein etwas beklemmendes Gefühl aus. Auch wenn ich nach wie vor überzeugt davon bin, dass hier ein bisschen Show gemacht wird (“es können JEDERZEIT ein Eisbär hinter jedem Haus vorkommen”). Es ist natürlich wahr, dass in Pyramiden ab und zu ein Eisbär vorbeischaut. So wie das eben überall auf Spitzbergen vorkommen kann. Aber ob er sich dafür nun genau die zwei Stunden am Tag aussuchen wird, wo eine laute Horde von Touristen die Stadt belagert, ist wohl eher fraglich.

Ich würde Pyramiden wieder besuchen. Ein Ort, in dem man Mobilfunk und Internet vergeblich sucht und der total entschleunigt. Das nächste Mal gerne ein bisschen länger und mit Übernachtung. Dann würde ich Kajaken im Billefjord und mir unbedingt noch das Flaschenhaus am westlichen Rand von Pyramiden ansehen – ein Haus, welches komplett aus Wodkaflaschen gebaut wurde!

Habt ihr schon mal eine Geisterstadt besucht? Verratet mir gerne in den Kommentaren wo das war und wie ihr es fandet!

Hier geht es zu Teil 1 der Spitzbergen-Serie.